Martin Stadtfeld
Tracklist: Deutsche Volkslieder
MARTIN STADTFELD, Klavier
Bela Plicht (12 Jahre), Klavier (Track 29)
Martin Stadtfeld über seine Arrangements
Ich schrieb diese Arrangements deutscher Volkslieder im zweiten Lockdown. Während der erste etwas romantisch umwölktes hatte (Wandern in der Natur, Nachdenken über das Leben) war der zweite eher depressiv. Ich denke es ging vielen Menschen so.
Das Volkslied war für mich wie ein Rettungsanker. Diese Melodien brachten etwas in mir zum Erklingen und ihre geniale Einfachheit rührt wohl jede Seele an. Auch wenn ich manche dieser wunderbaren Lieder bisher gar nicht kannte, schienen auch diese mir vertraut. Denn die Gefühle, die Volkslieder verhandeln, sind uralt und doch immer wieder neu.
Mit den Wiegenliedern wie „Guter Mond“, das ich hier auch in einer vierhändigen Fassung mit einem begabten Nachwuchspianisten eingespielt habe, bin ich aufgewachsen. Das „Steigerlied“ wurde mir in meiner Wahlheimat Ruhrgebiet vertraut. „Im Krug zum grünen Kranze“ oder „An der Saale hellem Strande“ kannte ich vor dem Projekt noch nicht, sie gehören inzwischen zu meinen Favoriten. Was ist eigentlich mein Lieblingslied? „Es waren zwei Königskinder“. Und „Ade nun zur guten Nacht“, ein herzergreifendes Abschiedslied.
Die Bearbeitungen fertigte ich innerhalb einer Woche an, die sich rauschhaft glücklich anfühlte. Manche bedienen sich der alten Passacaglia-Form, in einigen - wie z. B. „Freiheit, die ich meine“ - verleihe ich ich in Vor- und Nachspielen meinen persönlichen Gefühlen zum Thema des Lieds Ausdruck. Es gibt auch ein paar Variationen, allerdings in der Verkehrung. Erst die Verfremdungen, am Ende das Thema. Man kann mitraten.
Volkslieder scheinen einer Art Urton der menschlichen Seele zu entsprechen. Denn selbst die „komponierten“ sind eher Zusammenfassung, Bündelung und Formung des Summens in der Welt. In manchen ist die Nähe zur Musik der großen Komponisten erkennbar. So habe ich in zweien Melodien Mozarts und Beethovens eingeflochten. All diese Lieder haben mir in der Zeit, als man das Menschliche oft unterband, Mut gegeben. Diese Lieder werden bestehen bleiben, denn sie betrachten Liebe, Einsamkeit, Freiheitssehnsucht, den Einklang mit den Jahreszeiten und das Glück der gemeinschaftlichen Empfindung.
KALEIDOSKOP MENSCHLICHEN SEINS –
EINE ANNÄHERUNG AN DAS DEUTSCHE VOLKSLIED
Volkslieder „sind wahrlich das, worauf der wahre Künstler, der die Irrwege seiner Kunst zu ahnden anfängt, wie der Seemann auf den Polarstern, achtet, und woher er am meisten für seinen Gewinn beobachtet.“1
Diese Weisheit gab der Komponist Johann Friedrich Reichardt – noch heute bekannt für seine Melodien zu den Liedern „Bunt sind schon die Wälder“ und „Wenn ich ein Vöglein wär“ – angehenden Kunstjüngern mit auf den Weg. In seinem 1782 publizierten Aufsatz An junge Künstler stellte er die besondere Bedeutung des Volksliedes als künstlerischen Kompass für Nachwuchs- komponisten heraus. „So wirst du oft in einem ächten Volkliede, das Jahrhunderte überlebte, mehr wahren Kunstsinn finden, als in mancher großen Oper, angebetet von viel tausend Menschen einen ganzen Monat lang. [...] Liedermelodien in die jeder, der nur Ohren und Kehle hat gleich einstimmen soll, müssen für sich ohn‘ alle Begleitung bestehen können, müssen in der einfachsten Folge der Töne, in der bestimtesten Bewegung, in der genauesten Uebereinstimmung der Einschnitte und Abschnitte [...] die Weise des Liedes so treffen, daß man die Melodie, weiß man sie einmal, nicht ohne die Worte, die Worte nicht ohne die Melodie mehr denken kann; daß die Melodie für die Worte alles, nichts für sich allein seyn will. Eine solche Melodie wird allemal [...] den wahren Charakter des Einklanges [...] haben, also keiner zusammenklingenden Harmonie bedürfen oder auch nur Zulaß gestatten. So sind alle die Lieder der Zeiten beschaffen, da unser deutsches Volk noch reich an Gesang war; da zusammenklingende Harmonie noch nicht eingeführt war, und lange nach ihrer Einführung noch auf die Kirche ihren Ursprungsort eingeschränkt blieb.“2
Zur Entstehungszeit des zitierten Aufsatzes steckte die Erforschung des deutschen Volksliedgutes noch in ihren Kinderschuhen. Erst wenige Jahre zuvor hatte Johann Gottfried Herder seine beiden berühmt gewordenen Sammlungen von Volksliedern veröffentlicht, mit denen erstmals der Versuch unternommen wurde, das Wesen des deutschen Volksgesangs tiefer zu ergründen. Herder war klar, dass er auf diesem Feld Pionierarbeit zu leisten hatte: „Der Strom der Jahunderte [sic!] floß dunkel und trübe für Deutschland. Hie und da hat sich eine Stimme des Volks, ein Lied, ein Sprüchwort, ein Reim gerettet; meistens aber schlammig, und reissen es die Wellen sogleich wieder hinunter.“3 Herder erkannte in diesen Liedern „das Archiv des Volks, der Schaz ihrer Wissenschaft und Religion, ihrer Theogonie und Kosmogonien der Thaten ihrer Väter und der Begebenheiten ihrer Geschichte, Abdruck ihres Herzens, Bild ihres häuslichen Lebens in Freude und Leid, beym Brautbett und Grabe.“4 Die für das Volkslied so essentielle Bedeutung der texttragenden Melodie war ihm von vorneherein bewusst, und so postulierte er: „Das Wesen des Liedes ist Gesang, nicht Gemälde; seine Vollkommenheit liegt im melodischen Gange der Leidenschaft oder Empfindung, den man mit dem alten treffenden Ausdruck: Weise nennen könnte. Fehlt diese einem Liede, hat es keinen Ton, keine poetische Modulation, keinen gehaltenen Gang und Fortgang derselben; habe es Bild und Bilder, und Zusammensetzung und Niedlichkeit der Farben, so viel es wolle, es ist kein Lied mehr. [...] Ist Gegentheils in einem Liede Weise da, wohlangeklungne und wohlgehaltne lyrische Weise; wäre der Inhalt selbstauch nicht von Belange, das Lied bleibt und wird gesungen. [...] Lied muß gehört wer- den, nicht gesehen; gehört mit dem Ohr der Seele, das nicht einzelne Sylben allein zählt und mißt und wäget, sondern auf Fortklang horcht und in ihm fortschwimmet.“5
In der unmittelbaren Nachfolge Herders veröffentlichte auch der Schriftsteller Anselm Karl Elwert Ungedruckte Reste alten Gesangs nebst Stücken neurer Dichtkunst. Fasziniert von der urtümlichen Kraft der überlieferten Volkslieder mutmaßte er, es müsse „etwas in diesen simplen Liedern stecken, das ihnen Stärke gibt, dem Zahn der Zeit zu trotzen, der so schnell an unsern schönsten Opernarien nagt. Ohne in der Situation zu seyn, in der diese alte Dichter ihre Lieder sangen, werden wir sie nicht erreichen. Nachahmen können wir, wenn wir das singen, was in unsrer Sele [sic!] wohnt und mehr nicht.“6 Die hier anklingende Bedeutung des musikalischen Aspekts war auch Achim von Arnim und Clemens Brentano bewusst, die mit ihrer dreibändigen Sammlung Des Knaben Wunderhorn die wohl bekannteste Anthologie alten deutschen Liedgutes publizierten. So verwundert es nicht, dass sich der 1806 im Anhang zum ersten Band gedruckte Aufsatz Von Volksliedern an den eingangs erwähnten Komponisten Johann Friedrich Reichardt richtet, der „Selbst mehr gethan für alten deutschen Volksgesang, als einer der lebenden Musiker, [...] ihn doch nach seiner Würdigkeit den lesenden Ständen mitgetheilt, [...] ihn doch sogar auf die Bühne gebracht“ habe.7 Der Verfasser des Aufsatzes, Achim von Arnim, sah sich und seine Mitstreiter als Wegbereiter an, die zum Zeitpunkt der Auflösung des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nationdie Deutschen für ihr lange vernachlässigtes Kulturerbe sensibilisieren und die Grund- lage einer gemeinsamen kulturellen Identität schaffen wollten. Arnims Ausführungen zufolge suchten er und die damaligen deutschen Volksliedforscher „etwas Höheres, das goldne Flies, das allen gehört, was der Reichthum unsres ganzen Volkes, was seine eigene innere lebende Kunst gebildet, das Gewebe langer Zeit und mächtiger Kräfte, den Glauben und das Wissen des Volkes, was sie begleitet in Lust und Tod, Lieder, Sagen, Kunden, Sprüche, Geschichten, Prophezeihungen und Melodieen, wir wollen allen alles wiedergeben, was im vieljährigen Fortrollen seine Demantfestigkeit bewährt, nicht abgestumpft, nur farbespielend geglättet, alle Fugen und Ausschnitte hat zu dem allgemeinen Denkmahle des größten neueren Volkes, der Deutschen, das Grabmahl der Vorzeit, das frohe Mahl der Gegenwart, der Zukunft ein Merkmahl in der Rennbahn des Lebens: Wir wollen wenigstens die Grundstücke legen, was über unsre Kräfte andeuten, im festen Vertrauen, daß die nicht fehlen werden, welche den Bau zum Höchsten fortführen und Der, welcher die Spitze aufsetzt allem Unternehmen. Was da lebt und wird, und worin das Leben haftet, das ist doch weder von heute, noch von gestern, es war und wird und wird seyn, verlieren kann es sich nie, denn es ist, aber entfallen kann es für lange Zeit, oft wenn wir es brauchen, recht eifrig ihm nachsinnen und denken.“8
Obwohl die ersten Herausgeber deutscher Volkslieder immer wieder die Bedeutung der Melodie betonten, mangelte es fast allen frühen Publikationen an konkreten Notenbeispielen. Der Fokus lag bei den meisten Veröffentlichungen auf der Dichtung. Eine Ausnahme bildete die 1807 in Berlin herausgegebene Sammlung Deutscher Volkslieder mit einem Anhange Flammländischer und Französischer, nebst Melodienvon Johann Gustav Gottlieb Büsching und Friedrich Heinrich von der Hagen, in deren immerhin 80 Seiten umfassendem Notenanhang noch heute bekannte Melodien wie „Hänschen klein“ – hier mit dem ursprünglichen Text „Fahret hin“ –, „Auf, auf zum fröhlichen Jagen“ oder „Kein Feuer, keine Kohle kann brennen so heiß“ zu finden sind. Den Herausgebern war es ein besonderes Anliegen, mit ihrer Auswahl zu zeigen, dass sich in den Volksliedern ein wahres Panoptikum menschlichen Lebens manifestierte: „So ist es auch dahin gediehen, daß man unter Volkslied nicht blos Lied von und für das gemeine Volk, sondern überhaupt jede poetische Aeußerung versteht, die aus einem gewissen allgemeinen nazionalen Sinne hervorgeht und dahin zurückkehrt, und worin freilich jenes gemeine Volk eine viel größere Stimme hat, als das vornehme. Also alles, was unmittelbarer und ungesuchter Ausdruck, gleichsam nothwendiges Athmen des wirklichen Lebens, der mannichfaltigen Karaktere, Stände, Verhältnisse, Lagen und Alter, besonders der allgemeinen Empfindungen der Freundschaft, Liebe, kurz des Lebens in seinem ganzen innigen Zusammenhange, mit allen seinen Freuden und Leiden, Widersprüchen und Räthseln; auch der üppigste Muthwille, der lustigste und kühnste Scherz, der barokkeste und tollste Witz und Spott, und endlich der liebliche Unsinn mit seinem ganzen Gefolge von ergötzlichen Narrheiten, welches ja Hauptwürzen des Lebens, nicht ausgeschlossen. Und wie hier dies alles kraus durch einander wechselt, so auch in dem bunten Strauße dieser Lieder, wo oft in einem und eben demselben das Widersprechendste ganz dicht neben einander steht. [...] Kurz, unsere Volkslieder umfassen alles, was in Liedern vom Herzen kommt und deshalb wieder zu demselben geht, allgemein anspricht und wiederklingt, und besonders unserer künst- lichen Zeit, die ihnen vielfach den Untergang droht, eine erfreuliche, fast wehmüthige Ergötzung bietet. Diese ihre unsterbliche Wurzel im menschlichen Herzen hat auch so vielen derselben ihre stete Erhaltung und in aller Umwandlung lebendige Fortpflanzung aus gewiß viel längerer und älterer Zeit, als wir sie bei manchen nur zufällig noch verfolgen können, bewirkt, so wie sie ihnen die fernere Fortdauer und stetige Erneuerung zusichert. Beides die überzeugendste Urkunde ihres ächten unvergänglichen Werthes.“9 Die bei Büsching und von der Hagen abgedruckten Melodien erweisen sich denn auch tatsächlich als kaleidoskopartig-bunter Strauß von Volksweisen, der auch heute noch durch sein Vielgestaltigkeit begeistert.
Von großer Bedeutung als Melodiensammlung erwiesen sich in der Zeit der zur Mitte des 19. Jahrhunderts mehr und mehr aufblühenden deutschen Nationalromantik die Deutschen Volkslieder mit ihren Original-Weisen von Andreas Kretzschmer aus dem Jahre 1838 sowie der von seinem Mitarbeiter Anton Wilhelm von Zuccalmaglio „als Fortsetzung des A. Kretzschmer’schen Werkes“ kuratierte zweite Band von 1840. Hierin findet sich etwa das berühmt gewordene Lied „Kein schöner Land in dieser Zeit“, das jedoch allem Anschein nach eine textliche Eigenschöpfung des Herausgebers darstellt und dessen Melodie aus Fragmenten anderer Volkslieder zusammengesetzt wurde. Zahlreiche Komponisten bedienten sich dieser Sammlung als Quelle historischen Volksliedgutes, wobei den meisten nicht bewusst gewesen sein dürfte, dass manche der hier abgedruckten Volksweisen eigentlich aus der Feder Zuccalmaglios stammten. Johannes Brahms begrüßte die Publikation dieser Sammlung sehr und bearbeitete letztlich über zwanzig Lieder daraus, indem er den Melodien eine zeitgemäße Klavierbegleitung hinzufügte. In der Vorerinnerung zum ersten Band greift Kretzschmer den eingangs zitierten Gedanken Reichardts zum Wesen der Melodie auf, nämlich dass „eine reine, selbständige, keiner Harmonie bedürfende Melodie immer frisch [bleibt]; sie ergreift noch das menschliche Gemüth nach Jahrhunderten, wie zur Zeit ihrer Ent-stehung. [...] Der Verfasser einer solchen selbstständigen Volks-Weise [...] singt sich die Weise so einfach hin, wie er sie fühlt, und eben dies Gefühl sagt ihm, daß seine Melodie entweder gar nicht, oder höchstens nach der oberen oder unteren Dominante ausweichen darf, nach beiden aber nicht zugleich in einem Liede, und weniger noch andern Tonarten; worin er auch recht hat, denn kein ächtes Volkslied thut dies. [...] Soll daher sein Lied seine Mitgenossen ansprechen, ergreifen, die eben, wie er, von der Harmonie nicht wissen, so muß es aus einer selbstständigen Melodie bestehen, einer Melodie, die keiner solchen Harmonie bedarf, um zu seyn, was sie ist; ja die sogar sie verschmäht, und ohne sie selbst mehr ergreift, wie mit derselben.“10 Dies im Bewusstsein ging Brahms bei seinen Bearbeitungen mit Behutsamkeit und großem Respekt vor der originalen Melodie zu Werke und verhalf so mancher Volksweise zu neuer Popularität.
Besonders nachhaltig geprägt wurde die Wahrnehmung des deutschen Volksliedes im In- und Ausland durch Volksliedadaptionen wie „Muss i denn zum Städtele hinaus“ und volkstümliche Eigenschöpfungen wie „Ich weiß nicht, was soll es bedeuten“ oder „Ännchen von Tharau“ aus der Feder von Friedrich Silcher. Von 1825 an veröffentlichte der als Wiedererwecker des deutschen Volksliedes gefeierte Komponist zwölf Hefte mit insgesamt 144 Liedern für vier Männerstimmen. „Diese Volkslieder sind so weit verbreitet, als deutscher Gesang reicht: sie erklingen an den Ufern des Susquehanna und Ohio so gut wie im deutschen Vaterland, und als der Kölner Männergesangverein in London (1853 und 1854) dem deutschen Liede die herrlichsten Triumfe bereitete, da standen obenan die Volkslieder, da erregte das schwäbische: ‚Jetzt gang i ans Brünnele‘ etc. den tieffsten Eindruck. Woher solche Erfolge? Ist es blos, daß Silcher mit seinen Heften den ersten glücklichen Griff gethan? Nein, seiner Verdienste sind mehr,es bedurfte hier nicht allein eines gelehrten, fleißigen Sammlers, es bedurfte einer so eigenthümlich sinnigen, poetischen Begabung, wie sie in Silcher aufgetreten, um uns unverfälscht die köstlichen Früchte wiedergeben zu können. Silchers Verdienst ist in mehrfacher Richtung zu verfolgen. Als Sammler hat er die echte Quelle gefunden, nicht vergilbte Handschriften, sondern die lebendig fließende der Volkskreise; er hat die Melodieen jenen naiven Klassen des Volks abgelauscht. Wir wüßten von mehr als einem der köstlichsten schwäbischen Volkslieder zu berichten, welche, von den schmucken Dirnen der der Universitätsstadt Tübingen nahen Dörfer [...] gesungen, die Aufmerksamkeit des Meisters erregten und aus dem Munde der Mädchen in seine Sammlung übergingen. Die Melodieen sind treu gegeben; der vierstimmige Satz ist klar, einfach, ungekünstelt, ohne gesuchte Harmonien.“11
Die immer wieder geschilderte Faszination der einnehmend schlichten Volksweisen veranlasste Komponisten bereits früh, nicht nur tradierte Volkslieder zu bearbeiten – wie es etwa Beethoven mit einer Fülle von Gesängen verschiedener Nationen getan hat –, sondern sich auch selbst an volkstümlichen Neuschöpfungen zu versuchen. Johann Abraham Peter Schulz, der Schöpfer der Melodien zu „Der Mond ist aufgegangen“ und „Ihr Kinderlein kommet“, äußerte sich im Vorbericht zur zweiten Auflage seiner Lieder im Volkston über die Herausforderung, leicht fassliche, der Volkspoesie angemessene Melodien zu schreiben, „mehr volksmässig als kunstmässig zu singen, nemlich so, daß auch ungeübte Liebhaber des Gesanges, so bald es ihnen nicht ganz und gar an Stimme fehlt, solche leicht nachsingen und auswendig behalten können. Zu dem Ende habe ich nur solche Texte aus unsern besten Liederdichtern gewählt, die mir zu diesem Volksgesange gemacht zu seyn schienen, und mich in den Melodien selbst der höchsten Simplicität und Faßlichkeit beflissen, ja auf alle Weise den Schein des Bekannten darinzubringen gesucht, weil ich aus Erfahrung weiß, wie sehr dieser Schein dem Volksliede zu seiner schnellen Empfehlung dienlich, ja nothwendig ist. In diesem Schein des Bekannten liegt das ganze Geheimniß des Volkstons; [...] Denn nur durch eine frappante Aehnlichkeit des musikalischen mit dem poetischen Tone des Liedes; durch eine Melodie, deren Fortschreitung sich nie über den Gang des Textes erhebt, noch unter ihm sinkt, die, wie ein Kleid dem Körper, sich der Declamation und dem Metro der Worte anschmiegt, die ausserdem in sehr sangbaren Intervallen, ineinem allen Stimmen angemeßnen Umfang, und in den allerleichtesten Modulationen fortfließt; und endlich durch die höchste Vollkommenheit der Verhältnisse aller ihrer Theile, wodurch eigentlich der Melodie diejenige Ründung gegeben wird, die jedem Kunstwerk aus dem Gebiete des Kleinen so unentbehrlich ist, erhält das Lied den Schein, von welchem hier die Rede ist, den Schein des Ungesuchten, des Kunstlosen, des Bekannten, mit einem Wort, den Volkston, wodurch es sich dem Ohr so schnell und unaufhörlich zurückkehrend, einprägt.“12
Auch andere Komponisten bemühten sich, mit neu geschaffenen Liedern den von Schulz definierten Parametern gerecht zu werden. Mitunter kam es jedoch vor, dass ihre Melodien erst nach einer Umtextierung volksliedhafte Berühmtheit erlangten. Dies geschah etwa beim von Fallersleben gedichteten Lied „Wer hat die schönsten Schäfchen“, das eine Melodie Reichardts nutzt, die dieser 1790 zu einem Text der Dichterin Karoline Rudolphi geschaffen hatte. Ein ähnlicher Fall liegt beim Lied „An der Saale hellem Strande“ vor, das auf dem 1822 veröffentlichten Klavierlied Soldatenabschied op. 27/1 von Friedrich Ernst Fesca basiert. Für das geistliche Lied „Geh aus, mein Herz, und suche Freud“ hat man 1836 dem barocken Text Paul Gerhardts die eingängige Melodie eines ursprünglich auf ein Gedicht von Hölty komponierten Liedes von August Harder unterlegt. In dieser Gestalt erst erlangte das Lied allgemeine Bekanntheit.
Bisweilen fanden Volksmelodien auch Eingang in Opernpartituren. So verwendete etwa der Mozart-Schüler Franz Xaver Süßmayr die Melodie zu „Im Märzen der Bauer“n seiner Oper Der Spiegel von Arkadien – versehen mit dem von Emanuel Schikane- der verfassten neuen Text „Die Milch ist gesünder, ist lauter, ist rein“. Auch Engelbert Humperdinck nutzte in seiner Märchenoper Hänsel und Gretel verschiedene tradier- te Volkslieder wie „Suse, liebe Suse“ und „Ein Männlein steht im Walde“, er ersann für dieses Werk jedoch auch eigene Melodien im Volkston wie etwa „Brüderchen, komm tanz‘ mit mir“, die später volksliedhafte Beliebtheit erlangten und ein von der Oper abgekoppeltes Eigenleben entwickelten. Der große Wiedererkennungswert und die simple, nur von einem melodieimmanenten harmonischen Gerüst getragene Struktur der Volksweisen boten vielen Komponisten außerdem Möglichkeiten zur komplexeren Verarbeitung im kammermusikalischen oder sinfonischen Kontext. So erscheinen Volksliedzitate – quasi als weltlicher Gegenpart zum wesentlich häufiger auf Zitatebene verwendeten Choral – etwa bei Johannes Brahms, Gustav Mahler oder Arnold Schönberg. Mit seinen Volksliedbearbeitungen nähert sich nun Martin Stadtfeld wieder dem Kern des deutschen Volksliedes an. Seine Arrangements lassen der ursprünglichen Melodie immer gebührend Raum, dabei kommentieren sie, öffnen neue Blickwinkel und offenbaren ungeahnte Bezüge. Und unweigerlich rufen sich beim Hören die zugehörigen Texte in Erinnerung. Unsere Volkslieder sind in unserem Bewusstsein so tief verankert, „daß man die Melodie [...] nicht ohne die Worte, die Worte nicht ohne die Melodie mehr denken kann“...
Dr. Timo Jouko Herrmann (2022)
1 Johann Friedrich Reichardt, „An junge Künstler“ Musikalisches Kunstmagazin 1 (1782): 4.
2 Ebd.: 3.
3 Johann Gottfried Herder, Volkslieder. Nebst untermischten andern Stücken, Bd. 2 (Weygandsche Buchhandlung:
Leipzig, 1778–79): 11f.
4 Johann Gottfried Herder, “Von Aehnlichkeit der mittlern englischen und deutschen Dichtkunst, neben
Verschiedenem, das daraus folgt”, Deutsches Museum 2/11 (1777): 432.
5 Herder, Volkslieder. Nebst untermischten andern Stücken, Bd. 2: 33f.
6 Anselm Karl Elwert, Ungedruckte Reste alten Gesangs nebst Stücken neurer Dichtkunst (Krüger: Gießen and
Marburg, 1784): 138.
7 Achim von Arnim und Clemens Brentano, Des Knaben Wunderhorn: Alte deutsche Lieder, Bd. 3 (Mohr und
Zimmer: Heidelberg, 1806–8): 425.
8 Ebd.: 463f.
9 Johann Gustav Büsching und Friedrich Heinrich von der Hagen, Sammlung Deutscher Volkslieder mit einem Anhange Flammländischer und Französischer, nebst Melodien (Friedrich Braunes: Berlin, 1807): II–V.
10 Andreas Kretzschmer, Deutsche Volkslieder mit ihren Original-Weisen (Vereins-Buchhandlung: Berlin, 1838): IX–X.
11 Otto Elben, Der volksthümliche deutsche Männergesang, zweite Auflage (H. Laupp’sche Buchhandlung: Tübingen, 1887): 425f.
12 Johann Abraham Peter Schulz, Lieder im Volkston, bey dem Claviere zu singen, zweite Auflage (George Jakob Decker: Berlin, 1785): non pag.
Veröffentlichung der CD: 7. Oktober 2022
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