Martin Stadtfeld

Chaconne


Gefürchtet, geachtet und geliebt. Prüfstein, Grenzerfahrung und Versuchung. Eines der großen, bis heute geheimnisvollsten Werke der Musikgeschichte ist die Chaconne von Johann Sebastian Bach, ein Werk, das für die Geige komponiert und mehrfach fürs Klavier transkribiert wurde, ein Werk, das von Orchestern gespielt wird, von Organisten und Gitarristen, von Cellisten und Schlagzeugern.

Im Sommer 1720 war Bach nach mehrmonatiger Dienstreise aus Karlsbad heimgekehrt. Was er nicht wusste: Er kam als Witwer zurück. Maria Barbara, seine Frau, war kurz zuvor gestorben. Bach konnte nur noch am Grab von ihr Abschied nehmen. Wenig später begann er die Komposition einer Partita für Violine solo.

Die Tonart: düster, d-Moll. Die ersten vier Sätze haben eine Länge von 155 Takten, der fünfte aber, die Chaconne, sprengt jeden Rahmen. Sie erstreckt sich über 257 Takte und kreist um mehrere Choral-Themen, die von Tod und Auferstehung handeln.

Wie später auch in den Goldberg-Variationen verlegt Bach das Hauptthema in die Bassstimme, außerdem liegt beiden Werken ein Sarabanden-Rhythmus zugrunde. Robert Schumann bearbeitete die Chaconne 1853 für Violine mit obligater Klavierstimme, und Johannes Brahms entwarf um 1877 eine Fassung für Klavier, "Eine Übung für die linke Hand", wie er sie nannte. In Ferruccio Busanis zwischen 1916 und 1919 publizierten Bach-Bearbeitungen nimmt die Chaconne den prominentesten Platz ein. Busoni formte aus der Vorlage ein anspruchsvolles Konzertstück, mit opulenten, orgelähnlichen Klangfarben. Zunächst hatte er sogar an eine Orchesterfassung gedacht, sich dann aber umentschieden.


Als Martin Stadtfeld für einen Konzertauftritt in Asien gebeten wurde, diese Busoni-­Version ins Programm zu nehmen merkte er, trotz aller Bewunderung, "dass diese Bearbeitung emotional nicht mit meinem Empfinden zusammenging. Denn jede Transkription enthält ja bereits einen Teil der Interpretation." Also begann Stadtfeld, danach zu suchen, woran sich seine inneren Widerstände festmachen ließen. Busonis Fassung erschien ihm zu bombastisch, zu virtuos, zu massig. Natürlich betont auch Stadtfelds Fassung das Bassfundament, dessen rhythmische Struktur für ihn "etwas Archaisches" enthält, zumal in Verbindung mit dem Intervall der Quinte - dem Intervall, in dem eine Geige gestimmt ist. Wichtig an seiner Bearbeitung ist Stadtfeld, dass er "unterschiedliche Farbgebungen für die jeweiligen Teile gefunden hat, die sich so voneinander abgrenzen sollen".

Stadtfeld möchte nicht ausschließen, dass es in Bachs Gedankenwelt bereits eine frühere Form dieser Chaconne gegeben hat. Natürlich lässt sich das, wie so vieles bei Bach, nicht nachweisen. "Doch einige Verschachtelungen in Dur erinnern mich an seine früheren Orgelwerke und das Kreisen um die leeren Saiten kennt man aus der d-Moll-Toccata." Diese hatte Bach bereits während seiner Zeit in Arnstadt geschrieben, wo er ab 1703 angestellt war. Schließlich erkennt Stadtfeld in der Bass-Dominanz der Chaconne eine geistige Nähe zur c-Moll-Passacaglia BWV 582, die ebenfalls in Arnstadt entstanden sein dürfte.

Martin Stadtfelds enge Beziehung zum Œuvre Bachs erstreckt sich bereits über viele Jahre und ist in einer Reihe von CDs dokumentiert. Dabei hat er seinen Blick auch auf den weniger populären Bach gelenkt und einige von dessen unvollendet gebliebenen Entwürfen fortgeschrieben. Aus dem erste 1976 gefundenen zusätzlichen kanonischen Material zu den "Goldberg-Variationen" hat er in engen motivischen Bezügen die Reihe der bislang bekannten Variationen weiterentwickelt. Außerdem integriert Stadtfeld in seine Konzertprogramme häufig kleine Improvisationen, die an Bachs Themen angelehnt sind oder aber, wie im Fall der Prä- und Interludien zu den Chopin-Etüden, zumindest einen indirekten Bach-Bezug aufweisen.


Schott Music

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